Schon seit einiger Zeit habe ich eine Praxis, die mir zu Beginn des Tages hilft, meine Gedanken zu ordnen: die sogenannten „Morgenseiten“. Diese Übung habe ich dem Buch „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron entnommen:
Morgenseiten zu schreiben heißt, sich eine Viertelstunde am Morgen Zeit zu nehmen, um handschriftlich seine Gedanken zu Papier zu bringen. Anders als beim Tagebuchführen geht es nicht um das reflektiert Notieren bestimmter Dinge und Ereignisse. Auch kommt es nicht darauf an, dabei eine bestimmte Form einzuhalten. Die Morgenseiten sind schlicht dafür da, die eigene Hand über das Papier zu bewegen und auf drei Din A4 Seiten all das niederzuschreiben, was einem in den Sinn kommt.
Sinn der Übung – die Erweckung der eigenen Kreativität
Laut Cameron ist der Sinn dieser Praktik, die eigene Kreativität wiederzufinden. Eine Aussage, die bei mir – wie bei vielen anderen Menschen wahrscheinlich auch – auf eine ablehnende Haltung trifft.
Kreativität hat für mich die Bedeutung des „Kunst-Machens“: eine Begabung, die nur besonderen, auserwählten Menschen vorbehalten ist. In unserer ergebnisorientierten Welt zählen außerdem Arbeit und Produktivität als das Maß aller Dinge. Wer hat das schon Zeit, für solche Spielereien?
Kreativ zu sein bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass man anfangen müsste, zu zeichnen oder Gedichte zu schreiben. Der sogenannte „Art Bias“ will uns glauben machen, dass Kreativität nur mit Berufen oder Tätigkeiten aus den Bereichen der bildende und der darstellenden Kunst verbunden sei.
Kreativität ist aber viel mehr: nämlich die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, was neu oder originell und dabei nützlich oder brauchbar ist. All das sind Fähigkeiten, die einem helfen können, das eigene Leben zu meistern. Denn ein jeder hat es in der Hand, die vielen Möglichkeiten zu entdecken, die unsere Welt uns bietet und aus diesen frei zu wählen. Der einzelne Mensch ist Schöpfer seines eigenen Lebens und mithin fähig, kreativ zu sein.
Viele Menschen hingegen leben ihren täglichen Alltag nach vorgefertigten und feste Mustern. Wie ein Straßennetz geben sie uns vor, welchen Weg wir einschlagen müssen. Dabei kann es sich lohnen, auch mal den ausgetretenen Pfad zu verlassen und unbekanntes Terrain zu betreten.
Denn wenn wir kreativ handeln, dann können anfangen, uns weniger fremdgesteuert durch die Welt zu bewegen. Die Dinge nicht einfach nur so machen, weil man es schon immer so getan, sondern weil man sich bewusst dafür entschieden hat. Vielleicht mag man entdecken, dass eine Stunde Lesen einem zu mehr Entspannung verhilft, als die Zeit vor dem Fernseher zu verbringen. Die Morgenseiten können hier zu mehr Klarheit verhelfen.
Die Skepsis gegenüber der Erweckung der eigenen Kreativität ist unbegründet. Nicht nur Maler oder Bildhauer profitieren davon. Einem jeden von uns kann etwas mehr davon bei der Gestaltung des eigenen Lebens helfen.
Die eigenen Zweifel hinsichtlich der Sinnhaftigkeit der Morgenseiten beiseiteräumen:
lso gab ich den Morgenseiten eine Chance. Ich setzte mich hin und ließ meine Hand einfach von dem Gedankenstrom leiten. Erschreckend stellte ich fest, wie voll von Gedanken der eigener Kopf doch ist! Oft kreisen diese um die anstehende Tagesplanung und die Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Aber auch Überlegungen, was es heute zu essen geben soll, was eingekauft werden muss. Oder aber auch Hinweise, dass es mal wieder Zeit wäre, aufzuräumen, zu waschen, etc. Gedanken an Bücher, Filme, Menschen, mit denen ich mich die ganze Zeit schon mal wieder beschäftigen wollte.
Das Aufschreiben erlaubt mir, Struktur in dieses Gedankenchaos zu bringen. Gerade, wenn mich ein Gefühl der Überforderung plagt, da es so vieles zu tun gilt. Dann sind die Morgenseiten wie ein Abflussventil. So profan meine Gedanken auch sein mögen, so „verstopfen“ sie doch meinen Kopf. Indem ich sie aufschreibe ist es als würde ich dreckiges Wasser aus einer Badewanne ablassen. Mein Kopf ist freier und es ist Platz für Neues.
Doch nicht nur „geschäftige“ Gedanken kommen in mir hoch. Auch Gedanken über Menschen und Situationen, die mich belasten, finden ihren Weg durch die Morgenseiten in mein Bewusstsein: ich merke, wie ich mich wiederkehrend über etwas beschwere, ohne bislang etwas geändert zu haben.
Andererseits erinnern mich die Morgenseiten auch an die Dinge, die ich gerne tue, die mir Freude bereiten. In den Momenten kommt mutet mir das fast vorwurfsvoll an: warum tue ich nicht mehr von den Dingen, die mir guttun?
Nach den drei beschriebenen Seiten bin ich immer wieder erstaunt, welch gewaltiges Potpourri an Gedanken sich in meinem Kopf angesammelt hat. Es fühlt sich gut an, diese „rausgelassen“ zu haben, es ist als sei plötzlich mehr Platz und Klarheit.
Ein wenig kann man sich die Morgenseiten wie ein Äquivalent zu einem Gespräch mit dem besten Freund / der besten Freundin vorstellen. Die Momente, in denen wir einfach unserer Seele Luft machen und darüber berichten können, was uns bewegt. Momente, in denen wir uns verstanden fühlen und das Gefühl bekommen, die eigene Geschichte sei von Bedeutung.
Daher suchen wir die Nähe zu solchen Menschen, die sich Zeit für uns nehmen und wir vermeiden solche, die uns und unsere Gefühle ignorieren. Das Verhältnis zu dem Menschen jedoch, der uns auf Schritt und Tritt begleitet, ist eher selten so harmonisch und verständnisvoll. Mit uns selbst verbringen wir am meisten Zeit und doch ist es um die innere Kommunikation oft nicht gerade rosig bestellt. Wie oft ignorieren wir Gedanken und Gefühle, wie oft kritisieren wir uns selbst? Wäre die eigene innere Stimme ein Mensch, so würden wir es wohl nicht lange mit ihm aushalten wollen…
Die Morgenseiten zeigen uns schonungslos auf, welche Qualität unser innerer Dialog hat. Vielleicht erkennen wir dadurch, dass wir uns allzu oft durch selbstvernichtende Kritik selbst sabotieren. Vielleicht helfen sie uns auch, uns selbst darin zu erinnern, sanfter mit uns selbst umzugehen. Indem wir einfach mehr von den Dingen zu tun, die unsere Seele nähren und solche meiden, die uns schaden. Letztlich bieten sie aber genau das, was wir von einem guten Freund erwarten würden: sie hören uns zu, ohne uns zu verurteilen.
Was verändert sich durch die Morgenseiten?
Die Morgenseiten zwingen mich, mich mehr mit mir selbst auseinander zu setzen, mir selbst „zuzuhören“. Durch sie kommen Bedürfnisse und Wünsche zutage, denen ich sonst wenig Aufmerksamkeit schenke.
Aber den größten Effekt haben die Morgenseiten dann, wenn meine inneren Widerstände dagegen am größten sind. So möchte ich mich besonders an den Tagen um das Schreiben drücken, an denen ich mich nicht gut fühle, an denen ich gestresst und genervt bin.
Wenn ich an „schlechten Tagen“ dann aber trotzdem schreibe, sprudeln die destruktiven Gedanken nur so an die Oberfläche. Mein „innerer Kritiker“ tritt aus dem Schatten meiner ablehnenden Haltung heraus und bekommt hier seine größten Auftritte.
Er schreit mir Sätze zu, die oft limitierend und zerstörerisch sind. Mit der Zeit treten bestimmte wiederkehrende Muster zutage. Die Morgenseiten geben mir nun das nötige Bewusstsein, diese anzunehmen und auch dagegen anzusteuern. Enttarnt von den Morgenseiten operiert der innere Kritiker nunmehr nicht länger im Untergrund, was mir ein Gefühl der Kontrolle wiedergibt.
Insgesamt kann ich festhalten, dass ich mich danach „befreiter und klarer“ fühle. Daher würde ich es jedem empfehlen, das Schreiben der Morgenseiten einmal für einen Zeitraum von 30 Tagen auszuprobieren.
Nimm dir die Zeit am Morgen, bevor die Hektik des Alltags beginnt und setzte dich an einen Platz, an dem du ungestört sein kannst. Du nimmst Stift und Papier und schreibst einfach drauf los, ohne groß nachzudenken, ohne zu korrigieren. Nachdem du drei Seiten beschrieben hast, packst du diese in einen Umschlag und legt sie beiseite. Niemand anderes, auch zunächst du selbst – zumindest für die ersten 30 Tage – sollten das Geschriebene lesen.
Vielleicht wirst auch du nach nur wenigen Tagen mit den Morgenseiten merken, dass du dich freier fühlst.
Lass mich in den Kommentaren wissen, ob du dich an die Morgenseiten wagen willst und wenn ja, welche Beobachtungen du damit machst.
Wenn nicht, dann frage dich, was dich davon abhält und woher deine Skepsis rührt?
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ich das mit den Morgenseiten mal (zumindest eine Weile) regelmäßig mache: Bin Ende 50, mein Leben ist körperlich, seelisch und mental gerade im Umbruch – und es gibt viel zu lernen … Es ist eine Chance, es macht mir auch Angst, aber es ist den Versuch wert. Danke für den Tipp!
Gerade, wenn Du Dich im Umbruch befindest, können die Morgenseiten sehr hilfreich sein. Ebenso wie das Buch Julia Cameron´s, aus dem ich diese Übung habe. Würde mich freuen, wenn Du berichtest, wie es Dir damit ergeht, falls du dich dazu entscheidest!