Kannst du dich noch langweilen?

Wer kennt das nicht: man sitzt gemeinsam in einem Café, die Begleitung entschuldigt sich kurz und plötzlich entsteht ein Gefühl des Unbehagens. Alleine mit sich und seinen Gedanken, den Blicken fremder Menschen ausgesetzt, greift man zu seinem Handy. Nicht, weil es etwas Wichtiges damit zu tun gäbe, aber man empfindet einen Moment der Leere. Plötzlich hat man nichts zu tun, nichts worauf man seine Aufmerksamkeit lenken könnte. Um diese „erzwungene Trägheit“ zu überwinden, greifen wir nach dem Strohhalm, der uns aus dieser unangenehmen Lage befreien soll.

Smartphones als kognitive Krücken

Die meisten Menschen tragen ihre Smartphones ohnehin immer bei sich. Nicht nur, dass diese generell beständig an unserer Aufmerksamkeit zerren, sie sind ebenso ein willkommenes Vehikel, um der Langweile zu entfliehen.

Selbst wenn es nur wenige Minuten sind, wie in dem Beispiel mit dem Café, beim Warten auf den Bus oder an der Kasse im Supermarkt. Die wenigsten von uns schaffen es, diese kurzen Perioden des Nichtstuns einfach zu ertragen. Nervosität befällt uns und angestrengt suchen wir nach einem Rettungsring, an den wir uns in dieser misslichen Lage klammern können.

Wir sind es heutzutage gewohnt, einem permanenten Strom von Reizen ausgesetzt zu sein. Dieses Dauerfeuer lässt unser Gehirn nach Stimuli lechzen. Denn dadurch, dass es plastisch und modular aufgebaut ist, passt es sich an das an, was in seiner Umwelt passiert und an das, was es tagtäglich wahrnimmt. Unsere Gehirne haben sich an eine Umwelt gewöhnt, in der stets etwas „Neues“ greifbar ist. Sie sind darauf getrimmt, nach Ablenkungen zu suchen, wenn sich doch irgendwann „Leerlauf“ einstellt. Langeweile mögen sie nicht mehr dulden.

In Zeiten von Internet und Smartphones ist die nächste Ablenkung nur einen Klick entfernt. Das Handy bietet uns „kognitive Krücken“, die uns über die Schwelle des Nichtstuns hinwegtragen.

Wir scrollen durch unseren Facebook- oder Instagram-Feed oder lassen uns durch ein YouTube Video unterhalten. Unserem unsteten Geist gefällt das, erfährt er so Ablenkung und hat etwas, an dem er sich festhalten kann. Er muss sich nicht die Mühe machen, die losen Gedankenfetzen, die in ihm herumschwirren, zusammenführen. Er ist dankbar, etwas zu tun zu haben. Dabei ist ihm nichts lieber als die leichte Kost, die ihm das Internet und Co. bieten.

Doch selbst, wenn wir beschäftigt sind, tun wir das oft auf äußerst sprunghafte Weise. Laut einer amerikanischen Studie unterbricht der Durchschnittsmensch alle 11 Minuten seine Arbeit und wechselt zu einer anderen Aufgabe.

Früh übt sich, wer ein Multitasker werden will

Bereits von Kindesbeinen an entwickelt sich die Angewohnheit, mehrere Sachen auf einmal zu machen. Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 18 Jahren, deren Medien-Nutzungsverhalten untersucht wurde, gaben an, dass sie sich nur äußerst selten ausschließlich auf eine Tätigkeit konzentrierten: fast 2/3 der Zeit, die sie mit Hausaufgaben am Computer verbrachten, waren sie parallel mit anderen Dingen beschäftigt (bei der klassischen Erledigung mit Heft und Stift war es immerhin 1/3 der Zeit). Auf diese Weise gelang es ihnen, durchschnittlich 8,5 Stunden Mediennutzung in 6,5 Zeitstunden zu „packen“ [1].

Multitasking macht uns ineffektiv  

Es ist ein Trugschluss zu glauben, auf diese Art, mehr erledigen zu können. Wer häufig mehrere Medien gleichzeitig nutzt, dem gelingt es nur schwerer, seinen Geist zu kontrollieren. Multitasker haben größere Probleme, irrelevante Reize der Umgebung wegzufiltern bzw. diese in ihrem Gedächtnis zu ignorieren. Obwohl sie es täglich üben, können diese Menschen weniger gut zwischen Aufgaben wechseln. Tatsächlich schleift sich die gegensätzliche Wirkung ein: jahrelanges Training in chronisch heftiger Mediennutzung resultiert in Oberflächlichkeit und Ineffektivität [2].

Dauerablenkung = geringere Selbstkontrolle

Sich seiner selbst, seiner Mitmenschen und seiner eigenen Ziele bewusst zu sein, macht ein aufgeklärtes Dasein aus. Diese Einsichten können nur gelingen, wenn man nicht permanent mit anderen Dingen beschäftigt ist. Phasen des Innehaltens können einen wertvollen Beitrag für die eigene Persönlichkeitsentwicklung darstellen.

Nicht umsonst gibt es das Sprichwort „in der Ruhe liegt die Kraft“. Wir brauchen diese Momente, in denen wir uns von dem entkoppeln, was um uns geschieht. Denn selbst, wenn wir Nichts tun, ist unser Gehirn hoch aktiv. Dann wird das Ruhestandardnetzwerk aktiv, welches für Introspektion verantwortlich ist und mit dem „Bewusstseinsgrad“ einer Person in Verbindung gebracht wird. In diesem Zustand sind wir in der Lage, autobiografische Gedächtnisinhalte abzurufen, uns unsere eigene Zukunft vorzustellen und die Fähigkeiten, Absichten und Wünsche anderer Menschen zu erfassen.

Wer in der Lage ist, sich selbst und seiner Umwelt bewusst zu sein, der kann Einsicht in die vielen automatisch in ihm ablaufenden Prozesse gewinnen. Es wird ihm leichter fallen, weniger reflexartig zu handeln, wenn er sein Unbewusstes durchschaut hat.

Die Dauerablenkung aber beraubt uns dieser Möglichkeit, mehr Kontrolle über uns und unser Verhalten auszuüben. Menschen, die sich permanent ablenken lassen oder mehrere Dinge gleichzeitig erledigen, verfügen darüber hinaus generell über eine geringere Selbstkontrolle. Ihnen fällt es schwerer, nicht auf Ablenkungen zu reagieren und sie werden eher Versuchungen nachgeben [3].

Besonders deutlich wird das in Situationen, in denen zukünftige mit gegenwärtigen Zielen kollidieren. So mag mein zukünftiges Ziel lauten, den lästigen Fettpölsterchen den Kampf anzusagen. Im gegenwärtigen Moment verspüre ich aber auch das Bedürfnis des Hungers. Wenn ich nun an einem heißen Sommertag an einer Eisdiele vorbeikomme, werde ich der Verlockung des leckeren, Erfrischung versprechenden Eises dann widerstehen können, wenn mein Wunsch, abzunehmen stark genug ist. Das Problem ist, dass ich das verlockende Eis vor mir sehe, das Ziel hingegen, mein Gewicht zu reduzieren, muss ich mir aktiv vergegenwärtigen.

Und dennoch gelingt es einigen Menschen, den Impuls, ein Eis zu essen, zu unterdrücken, Anderen hingegen gelingt dies nicht. Erstere verfügen über eine größere Selbstkontrolle. Wie alle Fähigkeiten ist auch Selbstkontrolle eine, die erlernt werden muss. Ein jeder von uns erhält bei seiner Geburt die genetische Ausstattung, die ihn der kognitiven Kontrolle befähigt. Aber wie das Laufen und das Sprechen passiert das Wollen nicht über Nacht.

Die Fähigkeit, aufmerksam zu sein und sein Verhalten bewusst zu steuern, muss trainiert werden.

Die Entscheidung, „Eis oder kein Eis“ wird darüber gewonnen, welche Gehirnareale dabei aktiver sind: der Hypothalamus oder der präfrontale Kortex. Um nicht dem Teil des Hirns den Vortritt zu lassen, der impulsiv und emotional-konditioniert reagiert (Hypothalamus) gilt es, die richtigen Werte kortikal zu implementieren. Dann fällt es uns leichter, rationale, an unseren Zielen ausgerichtete Entscheidungen zu treffen.

„Die Seele nimmt die Farben der Gedanken an.“ – Marc Aurel

Während wir darüber nachdenken, was uns wichtig ist und uns den Wert dieser Dinge vor Augen führen, entstehen in unseren Gehirnen bestimmte Gedankenspuren. Sie sorgen dafür, dass Informationen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden und somit unser Verhalten „gebahnt“ wird.

Selbstkontrolle und die Fähigkeit, mit voller Aufmerksamkeit bei einer Sache sein zu können sind Prozesse, die wir aktiv, durch Lernen herbeiführen müssen.

Es ist ein Trugschluss zu glauben, Lernen fände nur statt, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind (z.B. das Pauken von Vokabeln für eine Fremdsprache) oder wir uns in einer dafür vorgesehenen Umgebung befinden (z.B. in einem Klassenzimmer). Das Gehirn lernt immer. Das „Was“ wird unter anderem dadurch bestimmt, in welcher Welt wir uns bewegen und welche Dinge wir dabei wahrnehmen. Wird uns in Schule, Universität und Beruf vorgegeben, was wir zu lernen haben, obliegt es uns in unserer Freizeit selbst, dieses „Was“ zu steuern.

Die Entscheidung liegt bei uns, ob wir uns selbst zu Suchtkrüppeln mit einer Aufmerksamkeitsstörung machen wollen.

Wäre es aber nicht weitaus erstrebenswerter, selbstbestimmt und in Einklang mit unseren Zielvorstellungen zu leben? Auch, wenn es auf den ersten Blick profan erscheinen mag, so kann ein erster Schritt dahin sein, Langeweile willkommen zu heißen. Wer Momente, in denen nicht passiert, als solche auszuhalten weiß, ohne nach der nächstbesten Ablenkung zu suchen, schult seine Fähigkeit, aufmerksam zu sein. Und eine verbesserte Aufmerksamkeit mag uns dabei dienlich sein, zukünftig reflexartiges Verhalten leichter zu unterdrücken und uns den Dingen zu widmen, die uns wichtig sind.

Wie reagierst Du, wenn Du Nichts zu tun hast?

Nutzt Du das Internet und das Smartphone hauptsächlich, um Dich zu „entertainen“?

Wie würde es sich anfühlen, einfach „Nichts zu tun“, wenn ein Moment der Langeweile aufkommt?

  1. [1] Foehr UG. Media multitasking among American youth: Prevalence, predictors and pairings. Menlo Park, CA: Kaiser Family Foundation 2006 (www.kff.org)
  2. [2] Ophir E, Nass C, Wagner AD. Cognitive control in media multitaskers. PNAS 2009 doi/10.1073/pnas.0903620106
  3. [3] Hare TA, Camerer CF, Rangel A. Self-control in decision-making involves modulation of the vmPFC valuation system. Science 2009; 324: 646–648

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