Einmal mit dem Zug quer durch die Republik, 22 Stunden Training in drei Tagen. Das hat nicht nur körperlich, sondern auch mental Spuren in meinem Körper hinterlassen: meine Schultern, Ellenbogen schmerzen, meine Socken verkleben mit den offenen Stellen an meinen Füßen und meine geistigen Kapazitäten scheinen völlig aufgebraucht zu sein. Vorab haben die Menschen in meinem Umfeld mir folgende Fragen gestellt:
„Was genau ist dieses Seminar, das du in Berlin besuchst? Wer ist Joseph Bartz? Warum machst du das?“ Während ich meine Wunden lecke, stelle ich mir diese Frage selbst: warum genau mache ich das? Das soll der Versuch einer Erklärung werden:
Als ich mich intensiver mit dem Thema „Movement“ auseinandergesetzt habe, bin ich auf den Namen Joseph Bartz gestoßen. Als Schüler Ido Portals vertritt er eben diese Alles-Könner-Mentalität hinsichtlich Bewegung, die mich zunehmend fasziniert und inspiriert. Um mit den Grundlagen seiner Arbeit vertraut zu werden, habe ich bereits vergangenen Oktober ein Seminar bei Joseph besucht.
Die praktische Umsetzung dessen, wovon ich bislang nur gelesen oder Videos gesehen hatte, hat mich und mein Verständnis von Training und Bewegung nachhaltig geprägt. Die dortigen Erfahrungen haben mir meine eigene Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit deutlich vor Augen geführt. Ich gehöre wahrscheinlich eher zu der Kategorie Menschen, die man allgemeinhin als „sportlich“ bezeichnet. Und doch hatte ich große Probleme, einfache koordinative Bewegungsaufgaben zu lösen. Mein Körper weigerte sich, andere als die bereits bekannten, lange eingeschliffenen Bewegungsmuster auszuführen.
Mein eigener Körper schien derjenige zu sein, der mich dominiert, statt dass ich selbst die Dominanz über ihn ausübe.
Joseph und seine Schüler hingegen bewegten sich mit einer Eleganz und Anmut. Jede Bewegung, und war sie noch so schwer, übten sie mit dem Gefühl von Leichtigkeit aus. Während ich über jeden nächsten Schritt der Bewegung nachdenken musste, schienen sie eins zu sein mit dem, was sie taten. Völlig selbstvergessen und „im Flow“, selbstzufrieden und selbstvergessen.
Diese Leichtigkeit des Seins, die sie ausstrahlten, wollte ich mir ebenfalls zu eigen machen.
Folglich integrierte ich ein paar der Elemente, die ich bei dem Seminar gelernt hatte, in meine eigene Bewegungspraxis. Mit der Zeit verstand ich mehr und mehr, was es heißt, einen „generalistischen Ansatz“ zu verfolgen. Und dann war es an der Zeit, den nächsten Schritt zu machen und mich erneut mit Dingen zu konfrontieren, von denen ich keine Ahnung hatte: Bouldern und Floorwork, so der Arbeitstitel des Workshops, der mich ein zweites Mal nach Berlin und zu Joseph führte.
Beim Floorwork geht es darum, den Kontakt zu der uns am direktesten umgebenden Umwelt wiederherzustellen. Wie der Name also schon sagt, Arbeit mit dem Boden. Der moderne Mensch meidet den Kontakt damit üblicherweise. Wir sitzen auf Stühlen, an Tischen, nicht mehr auf dem Boden. Wir nutzen Autos, Fahrräder, andere Transportmittel außer unserer eigenen Beine. Und wenn doch, dann tragen wir Schuhe, statt barfuß zu laufen. Wir tun darüber hinaus alles, um den Boden von jeglichen Unebenheiten zu befreien, indem wir ihn asphaltieren und begradigen. Diese künstliche Trennung von Mensch und seiner Umwelt galt es wieder aufzuheben. Auf verschiedene Arten und Weisen „erforschten“ wir, wie wir uns dem Boden wieder nähern können. Joseph zeigte uns dabei drei Zugänge: aus dem Liegen, aus dem Sitzen, aus dem Vierfüßlerstand.
Die Bewegungen, die wir ausführten, erinnerte stark an das Tanzen. Auch hier merkte ich wieder, wie „voreingenommen“ ich in meinen Bewegungsausführungen war. Es fiel mir schwer, in diesen „Fluss“ zu kommen, den Joseph verkörperte. Meine Bewegungen waren abgehackt und eckig. Joseph hingegen schien eins zu sein mit den Bewegungen und dem Boden, er bewegte sich leicht und ohne Anstrengung. Dabei strahlte er Lebensfreude und Unbeschwertheit aus.
Ich hingegen hatte mit diesen Aufgaben zu kämpfen und mühte mich redlich ab. Da fragte ich mich, warum genau ich nun als erwachsener Mensch und dazu auch noch vor fremden Menschen auf dem Boden herumrollen sollte? Was „habe ich davon“, welchen „Sinn“ ergibt es, wenn es denn überhaupt einen gibt?
Aber dieselbe Frage kann man auch in Bezug auf das Tanzen stellen: warum tanzen die Menschen? Welchen „Zweck“ verfolgen sie damit? Zumindest keinen, der in unserer Leistungsgesellschaft als erstrebenswert gälte. Er ist selten skalierbar, schlecht vergleichbar. In einer Welt, in der es nur darum zu gehen scheint, „irgendwo hinzukommen“, stellt das Tanzen demnach ein Kontrast dar.
In unserer Vorstellung ist das Leben eine Analogie zu einer Reise. Eine Art Pilgerreise, mit einem besonderen Ziel am Ende, das wir zu erreichen suchen: Erfolg, Glück oder ein Leben nach dem Tod. Beim Tanzen hingegen beschließen wir nicht, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einzutreffen.
Der ganze Sinn des Tanzens ist das Tanzen selbst!
Vielleicht ist das der Grund, warum wir uns während des Tanzens so „lebendig“ fühlen: wir sind im Hier und Jetzt, nehmen den Moment und uns selbst bewusst wahr. Und so tanzen die Menschen aus verschiedenen Anlässen: alleine, zu zweit, in Gruppen; aus Freude, aus Trauer, um etwas zu feiern oder einfach nur so.
Bei den Aufgaben und Bewegungen des „Floorwork“ musste ich aufmerksam sein und doch fiel es mir schwer. Ich habe gemerkt, wie stark ich bereits „verkopft“ bin: darauf getrimmt, alles nach Schema und Struktur zu tun, stets etwas durch Bewegung erreichen zu wollen. Unter Joseph wurde ich dazu gezwungen, Bewegung wieder mit anderen Augen zu sehen, Kreativität und eine offene Haltung zuzulassen. Wir glauben, alles schon gesehen zu haben, haben über alles schon unsere Meinung und Vorurteile. Wie ein Kind sollte ich nun alles mit neuen, offenen Augen sehen. Für sie ist alles möglich. Die eigene Kreativität ist noch da, der Enthusiasmus und die Spontaneität. Wenn sie sich bewegen, dann tun sie das überschwänglich und freudig. Trotz all der Schwierigkeiten, die ich bei meinen Bewegungsausführungen hatte, konnte ich dieses Gefühl dennoch erleben.
Und nun machte Joseph Artikel und Video plötzlich Sinn für mich: was heißt es, Überschwang – „Exuberance“ zu fühlen?
Expressing exuberance through movement means to express your enjoyment of being alive, your abundance of energy, your life force. And through expressing it, all of these are also provided to you. Specific adaptions to imposed demands: If you move exuberantly, you become exuberant.
Daher sollten wir uns herumtollende Kinder und auch Tiere zum Vorbild nehmen: sie bewegen sich nicht mit der Intention, einen bestimmten Trainingseffekt zu erreichen. Sie tun es, weil es ihnen guttut! Meist geschieht das aus ihnen selbst heraus und ohne, dass ihnen jemand sagt, was sie zu tun haben. Auch die meisten erwachsene Menschen suchen in Bewegung und Sport etwas, das ihnen dieses Wohlgefühl zurückgeben kann.
Aber das, was die meisten Menschen unter Bewegung verstehen, orientiert sich stark an dem Fitnessparadigma: alles ist durchstrukturiert und wird mit einem vorgefassten Ergebnis im Kopf verfolgt. Bewegung wird mit „Training“ gleichgesetzt. Die wenigsten bewegen sich aus Lust und Freude an der Bewegung. Kinder und Tiere tun das noch, aber einem Erwachsenen erscheint dieser Ansatz als nicht „zielführend“. Mit dem Eintritt in die Adoleszenz werden aus Tätigkeiten, die eigentlich Freude bereiten sollen und die wir in unserer Freizeit machen, äußerst „ernsthafte Dinge“. Dabei ist das Leben doch schon ernst genug.
Wenn wir aus unserer Bewegung etwas machen, das nur nach Schema und automatisiert erfolgt, berauben wir uns der Möglichkeit, Überraschungen und Variantenreichtum zuzulassen. Das Leben passiert nebenher ohne, dass wir das tatsächlich wahrnehmen: wir werden gelebt, statt zu leben. Und wir übersehen dabei den eigentlichen Sinn: das Leben verhält sich wie Musik und Tanz und wir sollten singen und tanzen, solange die Musik noch spielt…
Warum also war ich bei Joseph? Weil ich auf der Suche nach “Lebendigkeit” bin. Weil ich das Gefühl habe, dass Bewegung mehr ist also nur „Training“ und „Fitness“. Weil es ein Vehikel dafür sein kann, mit jeder Faser des eigenen Seins in der Welt zu sein. Weil es ein schönes Gefühl sein kann, Dinge mit neuen Augen zu sehen und dabei Unbekanntes zu entdecken. Weil ich ein Leben in „Exuberance“ führen möchte!
The aim of life is to live, and to live means to be aware, joyously, drunkenly, serenely, divinely aware. – Henry Miller
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