Kaum, dass ich von meiner 3 wöchigen Reise aus dem Südwesten der USA zurück bin, verstehe ich die Worte Edward Abbeys besser denn je. Es ist kein „Luxus“ wie er sagt, Wildnis zu erfahren, sondern eine absolute Notwendigkeit. Notwendig deshalb, weil wir immer weniger im Einklang mit der Welt um uns herum leben. Gelebte Erfahrungen, wahre Kontakte werden immer seltener.
Zum einen liegt das daran, dass wir in unserer Moderne das, was wir gemeinhin als „Wildnis“ bezeichnen, nämlich unberührte Natur, kaum noch vorfinden. Immer kleiner werden die Gebiete, die dem Einfluss von uns Menschen noch nicht ausgesetzt sind. Denn auch wenn Wildnis immer auch eine gewisse Faszination ausübt, so schüchtert sie uns auch ein. Das Wilde, Ungezähmte und Unbekannte ängstigt uns. Daher ist es ein natürlicher Trieb von uns Menschen, Dinge kontrollieren und damit vorhersehbar zu machen.
Alles Wilde will gezähmt werden.
Aber nicht nur der Welt berauben wir ihrer Wildheit. Uns Menschen selbst nehmen wir das Wilde, Natürliche und Ungezähmte, um besser allen Anforderungen eines gesellschaftlich-konformen Lebens gerecht zu werden.
Auf Dauer führt das dazu, dass dieses Leben uns zu langweilen beginnt und sich der Wunsch manifestiert, aus diesem Hamsterrad austreten zu wollen.
Tief in einem jeden von uns verwurzelt schlummert die Sehnsucht nach Abenteuern.
Aber statt diese selbst zu erleben, suchen wir nach Ersatzlösungen: durch „Stellvertreter“ bringen wir Abwechslung in unseren Alltag. Es sind die Helden aus Kinofilme und YouTube Videos, die uns in eine Welt voller Gefahren und Risiken entführen. Vom eigenen Sofa aus lässt es sich bequem und vor allem risikolos mitfiebern. Das Kennzeichen eines Abenteuers ist es jedoch, dass es von niemandem anderen außer einem selbst erledigt und erlebt werden kann.
Das eigene Leben kann zu einem Abenteuerspielplatz werden, wenn wir bereit sind, den gewohnten Hafen zu verlassen und selbst in See zu stechen.
Für mich stellen diese Reisen in den Südwesten der USA solche kleinen Abenteuer dar. Dort findet man noch Gebiete, die nach heutigem Sprachgebrauch als „Wildnis“ bezeichnet werden können.
Es ist zunächst eine Umstellung, sich den Gewalten der Natur auszusetzen. Trips in das Hinterland sind stets begleitet mit einem gewissen Gefühl von Unbehagen. Was wird mich erwarten? Werde ich auf wilde Tiere treffen? Finde ich den Weg zurück? Gibt es genügend Wasser? Werden meinen körperlichen Fähigkeiten ausreichen?
Dazu paart sich, dass vieles, was im normalen Alltag einfach und selbstverständlich ist, plötzlich gewaltiger Anstrengung bedarf. In der Natur unterwegs zu sein, das bedeutet, dass es keinen Kühlschrank gibt, an dem ich mich bedienen könnte, wenn ich hungrig bin. Es bedeutet, dass Schmutz und Dreck zu ertragen sind, fließendes Wasser aus der Leitung ist eben nicht. Es bedeutet auch, eine gewisse Monotonie aushalten zu können. Es gibt kein Internet, kein Fernsehen, was zur Ablenkung und Belustigung herhalten könnte. Die Vorstellung, dass ich Dinge während meiner Abwesenheit verpassen könnte, quälen mich.
Nach drei Wochen mehr oder weniger Abgeschiedenheit stelle ich fest, dass die Welt sich zwar weitergedreht hat, sie aber in dem, was sie ist, unverändert geblieben ist. Ängste, etwas versäumt zu haben, sind unbegründet geblieben.
Denn ist es wirklich wichtig, welches Land gegen wen ein Fußballspiel gewonnen hat, welcher Star welchen gedated oder sich getrennt hat?
Ich möchte nicht vermessen sein und behaupten, dass solche Nachrichten nicht auch auf mich gewisse Anziehung ausstrahlen. Im alltäglichen Trott merke ich auch gar nicht, wie ich diesen anhafte. Nun, nachdem ich den „Entzug“ erfahren habe, sehe ich, welch Blendwerk das doch eigentlich ist. In dem Moment, in dem ich in der Wildnis war und mich damit auseinandersetzen musste, wo ich das nächste Trinkwasser herbekommen würde, war es nebensächlich, dass gerade parallel die Weltmeisterschaft im Fußball stattfand. Statt Deutschland gegen Schweden sah ich den Schwalben bei ihren Kunststückchen zu. Im Gegensatz zu den Profisportlern erhalten sie keine Unsummen für ihre akrobatischen Flugeinlagen, mit denen sie mich an diesem Nachmittag verzücken.
Auch das kann also Unterhaltung sein. Unterhaltung, die die Welt einem kostenlos zur Verfügung stellt, wenn man nur bereit ist, aufmerksam zu sein. Grundsätzlich läuft dieses Programm jederzeit und überall. Wir tun jedoch alles, um es zu überspielen. Statt auf Bäume starren wir auf Hauswände. Statt der Sterne blicken wir nächtens in Straßenlaternen. Die Natur in ihrer Wildheit wird zurückgedrängt, damit wir es bequemer haben. Auch hier möchte ich nicht behaupten, dass ich diese Annehmlichkeiten nicht auch sehr zu schätzen wüsste.
Aber im Alltag bleibt ein Gefühl, dass irgendetwas fehlt.
Ein „Etwas“, das ich nicht mit Worten zu adressieren vermag. Es ist vielmehr ein Gefühl. Ein Gefühl der Unvollständigkeit.
So fühle ich mich „vollständiger“, wenn ich Zeit in der Natur verbringe. Und wenn es nur für eine kurze Zeit ist, dass ich die Errungenschaften der Zivilisation hinter mir lasse.
Diese Zeit reicht zumindest aus, um für einen Moment wieder den Kontakt mit der „wirklichen Welt da draußen“ herzustellen. Das dumpfe Gefühl des Gelebt Werdens weicht dem der Lebendigkeit. In der Natur zu sein, schärft meine Sinne, lässt mich den Moment erleben. Jede meine Handlungen hat eine unmittelbare Konsequenz. Damit wird mein Bewusstsein dafür geschärft, welche Handlung wirklich angebracht ist.
So vieles, dem wir ansonsten Wichtigkeit zukommen lassen, verliert hier an Bedeutung. Statt von Dauerstimulation bombardiert zu werden, erfahre ich Stille, wie sie im Alltag kaum zu finden ist. Dadurch, dass diese ablenkenden Eindrücke fehlen, bleibt der Raum, zur Ruhe zu kommen und die eigene innere Stimme Wort kommen zu lassen.
Mir wird bewusster, was wirklich zählt und Wichtigkeit besitzt.
Dazu zählt die Erkenntnis, dass es in seltensten Fällen die materiellen Dinge sind, nach denen man im „normalen Leben“ so häufig strebt und man stattdessen mit weniger auskommen kann, als man glaubt.
Ich fühle mich glücklich, muss ich meine Aufmerksamkeit und Energie doch auf den gegenwärtigen Moment richten. Es bleibt weniger Zeit für kraftraubende Gedanken und Sorgen an Zukunft oder Vergangenheit.
Das Leben reduziert sich auf das Wesentliche und lässt mich Dankbarkeit und Zufriedenheit erleben, auf dieser Welt zu sein.
Nun hat aber jede Reise ein Ende. Schon bald hat uns der Alltag wieder. Nur selten ist es uns vergönnt, tagelang alles hinter uns zu lassen und unsere Zeit in der Natur zu verbringen.
Doch keine Reise ist umsonst und ein Kennzeichen eines Abenteuers ist es, dass es seinen Protagonisten zu verwandeln versteht. Die Erfahrungen eines jeden solchen Erlebnisses können uns von großem Nutzen sein.
Wir müssen nur wissen, das Gelernte in unser Leben zu integrieren.
Um auch im Alltag die positiven Effekte der Natur anzuzapfen, bedarf es nur, selbstbestimmt und reflektiert mit der eigenen Freizeit umzugehen.
Wenn ich schon den Arbeitstag über stundenlang auf einem Bildschirm starre, muss ich selbiges nicht auch in meiner Freizeit tun. Statt Netflix zu schauen könnte ich z.B. den Himmel beobachten und den Wolken bei ihrem Treiben zuschauen. Statt mich zum Sport in ein Fitnessstudio und damit wieder in einem geschlossenen Raum zu begeben, könnte ich dazu in den Wald gehen. Statt am Wochenende ins Kino oder eine Kneipe zu gehen, könnte ich wandern oder Rad fahren.
Die Natur und auch die Wildnis, sie sind noch da, wir müssen nur die Hand, die sie uns zustrecken ergreifen. Wir selbst sind der Held unseres Lebens und es gibt so viele Abenteuer zu erleben. Sie warten nur darauf, dass wir sie endlich antreten und damit das Potential verwirklichen können, wieder einen Schritt näher zu uns und zu der Welt zu kommen.
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