Lass dich einfach mal hängen!

Wann bist du das letzte Mal richtig abgehangen? Damit meine ich nicht faul auf dem Sofa, sondern an einer Stange, einem Ast, etwas ÜBER dir?

Wahrscheinlich hast du das seit den Tagen deiner Kindheit nicht mehr getan. Klettergerüste, Bäume und Spielplätze waren voller solcher Gelegenheiten zum Klettern und Hangeln. Unser erwachsener Alltag bietet uns kaum noch solche Möglichkeiten. Überkopftätigkeiten sind äußerst selten geworden: In unserem Alltag sind die Arme meist nach unten orientiert, der Großteil der Sportarten fordert nicht von uns, zu hängen oder zu schwingen. Folglich werden unsere Schultergelenke kaum noch benutzt. Evolutionär gesehen sind unsere Schultern jedoch für Überkopfbewegungen und Hangeln konzipiert. Unsere Anatomie ermöglicht uns Menschen genauso wie Affen, an unseren Händen zu hängen und uns von Ast zu Ast zu schwingen.

Exkurs Schulter Anatomie

Das Schultergelenk besteht aus 3 Knochen: Schulterblatt (lat. Scapula), Schlüsselbein (lat. Clavicula) und Oberarmknochen (lat. Humerus). Als Kugelgelenk lässt es einen großen Bewegungsspielraum in 3 Ebenen zu. Es wird von Bändern und Sehnen zusammengehalten, Dabei ist die Schulter das einzige Gelenk, das ausschließlich muskelgesichert ist. Durch diese Art der Verbindung erhält das Schultergelenk den größten Bewegungsspielraum aller Gelenke des Menschen. Die Kehrseite hierbei ist, dass sie dadurch an Stabilität einbüßt.

Die 4 Muskeln und die entsprechenden Sehnen, die für die Stabilität und Mobilität entscheidend sind, nennt man „Rotatorenmanschette“. Sie verbindet den Oberarmknochen mit dem Schulterblatt und bildet einen Ring oder eine Manschette um das Gelenk. Dies verhindert, dass der Knochen aus der flachen Gelenkpfanne, der Fossa glenoidalis, herausspringt. Die Muskeln der Rotatorenmanschette sind der M. subscapularis (Unterschulterblattmuskel), M. infraspinatus (Untergrätenmuskel), M. teres minor (kleiner Rundmuskel) und der M. supraspinatus (Obergrätenmuskel).

Use it or lose it

Nicht nur, dass wir diese „Überkopftätigkeiten“ verlernen, es geht auch auf Kosten des Körpers.  Wenn wir einen Teil der Muskulatur nicht mehr nutzen, wird ein anderer dafür umso mehr beansprucht. Das stört das muskuläre Gleichgewicht und hat gleichzeitig Auswirkungen auf unsere Haltung und unsere Wirbelsäule.

Schreibtischarbeit, Smartphones, unser „bequemer Alltag“, in dem wir alles auf Gesichtshöhe erreichen:  Unsere Arme arbeiten hauptsächlich in der horizontalen Ebene. Die Muskulatur des Nackens, der Arme und der Schultergelenke werden in dieser Position „eingefroren“; das Gewicht der Arme trägt zusätzlich dazu bei, dass die Wirbelsäule nach vorne „gezogen“ wird. Das Resultat ist eine Inklinationshaltung: unser Oberkörper ist nach vorne gebeugt, die Schultern vorgestreckt. Aber nicht nur Büro-Arbeit, auch einseitiges Training der Brust- und Deltamuskulatur kann eine Inklinationshaltung begünstigen. Diese führt dazu, dass der Oberarm in der Schulter nach oben gegen das Schulterdach gezogen wird und Sehne und Schleimbeutel dazwischen gequetscht werden. Man spricht von einem Engpass oder auch Impingement Syndrom.

Exkurs Impingement Syndrom

95% der Verletzungen der Rotatorenmanschette resultieren aus diesem Impingement Syndrom. Der Engpass unterhalb des Schulterdachs wird meist durch eine Kontraktur des CA-Bogens ausgelöst.

Der CA-Bogen ist eine kurvige Struktur in der Schulter, die oberhalb der Sehne der Rotatorenmanschette liegt. Er besteht aus:

– Ligamentum coracoacromiale, welches vom Schulterdach zum Rabenschnabelfortsatz verläuft
– Schulterdach oder Gräteneck (Acromion, griechisch für Schulterknochen)
– Rabenschnabelfortsatz (Processus coracoideus)

Unterhalb des CA-Bogens verlaufen die Sehne der Rotatorenmanschette und der Schleimbeutel. Diese gleiten bei Aufwärtsbewegung des Oberarmes zwischen Oberarmkopf und Schulterdach.

Besteht nun ein hakenförmiges Schulterdach oder ein zu dickes Band (Ligamentum coracoacromiale) zwischen Schulterdach (Akromion) und Rabenschnabelfortsatz (Coracoid), so herrschen unzureichende Platzverhältnisse für das Durchgleiten der Sehne und des Schleimbeutels zwischen Oberarmkopf und Schulterdach vor. Bei jeder Bewegungsaktion kommt es nun zur Verletzung der Weichteile, zunächst mit Schwellung der Sehnenkappe, dann folgt Einblutung und Entzündung. Aus diesem akuten Zustand entsteht später die Verhärtung der Sehne (Fibrose). In der Folge können sich Kalkbröckel und auch größere Kalkdepots in der Sehne bilden.

Das Endstadium tritt ein, wenn diese stark geschädigte Sehnenkappe infolge von normalen Alltagsbewegungen oder eines mehr oder weniger ausgeprägten Unfalles reißt – die Rotatorenmanschettenruptur ist eingetreten.

Ein solches Engpass Syndrom verursacht nicht nur Schmerzen, sondern kann auch eine Operation erforderlich machen. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, solche Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen. Und sogar bereits bestehende können dadurch beseitigt werden! Die Zauberformel dafür heißt HÄNGEN. Alles was es dazu braucht ist ein Aufhängpunkt, von dem aus man mit beiden Händen hängen kann: eine Stange, Ringe, ein Gerüst, ein Türrahmen, die Handläufe in der Bahn…

Wolff´s law oder was passiert, wenn ich hänge?

Das „Gesetz der Transformation der Knochen“ wurde vom Berliner Anatom und Chirurgen Julius Wolff 1892 entdeckt. Es besagt, dass der Knochen sich aufbaut und an Festigkeit zunimmt, wenn er belastet wird. Dieses Gesetz machen sich bspw. Kieferorthopäden zunutze, wenn sie mittels Zahnspangen die Stellung der Zähne korrigieren.

Wenn ich hänge, dann müssen meine beiden Arme das ganze Körpergewicht tragen. Das führt dazu, dass

  • das Akromion (Schulterdach) des CA-Bogens gebeugt wird
  • das Ligamentum coracoacromiale gedehnt wird
  • und folglich, dass dadurch der CA-Bogen wiederaufgebaut wird

Es entsteht wieder Platz unterhalb dieses Bogens, dass es nicht mehr zu einer Einklemmung der Sehne und des Schleimbeutels kommt. Das Ergebnis ist das gleiche wie das, was der Chirurg zu erreichen versucht. Nur, dass dieser dafür mittels einer Operation ein Stück des Knochens weggenehmen muss. Weiterer Nutzen des Hängens ist es, dass die Schulterkapsel und die Schulterblätter aufgedehnt, die Muskeln der Rotatorenmanschette gekräftigt werden.

Science is about defining truths about nature, through experiment, or, EXPERIENCE – Richard Feynman

Dr. Kirsch, ein amerikanischer Chirurg und Schulterspezialist konnte die positiven Wirkungen des Hängens am eigenen Leib erfahren. Nach einem Riss der Rotatorenmanschetten und der Supraspinatus Sehne therapierte er sich damit selbst. Nach vier Jahren konsequenten Hängens hatte er keinerlei Schmerzen mehr; Tennisspielen, Bogenschießen waren ihm problemlos möglich. Nachdem er zahlreichen Patienten ebensolches Protokoll erfolgreich verordnet hatte, unternahm er eine großangelegte Studie und untermauerte damit seine These. 92 Probanden nahmen an der Kauai Studie teil. Alle hatten Schulter Probleme, die eine OP erforderten. Nach dem Häng-Protokoll konnten 90 Personen schmerzfrei Tätigkeiten des alltäglichen Lebens nachgehen und damit eine Operation vermeiden. Zwei von ihnen kamen sogar umhin, eine künstliche Schulter verpasst zu bekommen. Lediglich zwei Personen beendeten die Studie aus persönlichen Gründen. Der Chirurg weigert sich seitdem, eine Operation durchzuführen, wenn der Patient nicht zuvor das Häng-Protokoll absolviert hat. In den meisten Fällen wird diese danach obsolet…Dr. Kirsch hat sein Protokoll und detaillierte anatomische Ausführungen dazu in einem Buch festgehalten.

Ist Hängen denn nicht gefährlich?

Wenn der Arm über den Kopf geführt wird, dann befindet sich die Rotatorenmanschetten Sehne nicht länger unterhalb des CA-Bogens. Sie ist in hängender Position völlig entspannt und wird nicht mehr eingeklemmt. Anfangs kann es etwas unangenehm oder gar schmerzhaft sein, wenn man mit dem Hängen beginnt. Aber selbst bei einer bereits bestehenden Verletzung der Rotatorenmanschette kommt es zu keinen weiteren Schädigungen. Hängen ist vollkommen sicher! Einzige Voraussetzung ist, dass der Patient den Arm aus eigener Kraft in die Horizontale bringen kann.

Hängen in der Praxis

Zunächst benötigt man eine Aufhängung, die man mit beiden Händen umfassen kann. Zum Beispiel eine Klimmzugstange, die im Türrahmen befestigt werden kann. Von dieser lässt man sich zunächst mit nach vorne zeigenden Handflächen passiv hängen. Es gilt, möglichst viel Platz zwischen den Schultern zu schaffen. Man lässt die Schwerkraft für sich arbeiten, die Ohren kommen zwischen die Schultern, der Brustkorb zeigt nach unten. Ein gutes Einstiegsziel wäre, mehrmals am Tag eine Minute am Stück zu hängen. Um dorthin zu gelangen, kann man mit kurzen Zeitintervallen von 10-20 Sekunden beginnen. Solange die Griffkraft noch nicht so gut ausgebildet ist, können die Füße am Boden oder einer Kiste belassen werden. Aber ohne Fleiß kein Preis! Die Kontinuität dieser Praxis ist entscheidend! Daraus lässt sich z.B. leicht eine kleine Challenge machen? Versuche doch einfach mal, die nächsten 30 Tage über den Tag kumuliert 7 Minuten zu hängen. Deine Schultern und deine Gesundheit werden es dir danken. (Ido Portal hat zu dieser Challenge schon mehrmals über die sozialen Medien aufgerufen und viele positive Referenzen und Dankesschreiben dafür erhalten.)

Bist du dabei? Über deine Erfahrungen mit dem Hängen würde ich mich in den Kommentaren freuen!

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5 Replies to “Lass dich einfach mal hängen!

  1. Saugut ! Ido Portal ist der allercoolste Typ ! wegen ihm will ich mir was zum hängen für zuhause holen ! Auch ich merke durch UBahn-hängen, daß mir das wahnsinnig gut tut… Danke

  2. Ich wurde im privaten Bereich schonmal auf das Hängen hingewiesen… War aber skeptisch , da ich dachte es entsteht ein Impingement …Problem bei mir ist eine Degeneration der supraspinatus-sehne durch jahrelanges Krafttraining und stürze (vermutlich)… Ich habs probiert und es fühlt sich einfach richtig und gut an und es entstehen ja keine weiteren Schäden durch die Praktik…Problem ist nur ich schaffe es nicht lange und die schmerzenden Hände…Übung macht den….

    1. Hallo Frank,
      klasse, dass du trotz anfänglicher Skepsis mit dem Hängen angefangen hast! Und scheinbar spürst du ja bereits die ersten positiven Effekte, wenn du sagst, dass es sich gut anfühle 😉 Klar, die Griffkraft ist anfänglich der limitierende Faktor – wann nutzen wir auch noch unsere Hände in dieser Form?! Klein anfangen, dich nicht entmutigen lassen und jeden Tag ein bisschen mehr! Und wenn es zunächst nur 15 Sekunden am Stück sind oder du dich mit den Füßen abstützen musst.
      Ich bin gespannt, wie deine Reise weitergeht und wünsche dir alles Gute!

  3. Hallo Kathrin,

    danke für die aufmunternden Worte… Ich hoffe (glaub ich auch) mal der Erfolg stellt sich ein…meine Supraspinatus-Sehne die zwar degeneriert ist (kleinere oberflächliche Läsionen) aber eigentlich keine größere Ruptur hat quält mich doch sehr…bekanntermaßen schmerzen kleinere Läsionen mehr…ich bin guter Dinge..könnte nur schneller gehen.

    1. Hallo Frank,
      ich kann Dich verstehen. Geduld ist wahrlich eine Tugend. Anderseits hast du ja selbst geschrieben „jahreslanges Krafttraining und Stürze“… Dein Körper musste in der Vergangenheit also einiges ertragen und abfangen. Nun ist es an Dir, etwas Nachsicht zu üben. Gib ihm die nötige Zeit, sich selbst wieder zu regenerieren!

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